In der vorhergehenden Application Note wurde das Verfahren zur Abschätzung von Korrosionsraten beschrieben. Die Berechnungen galten unter der Annahme, dass die Korrosionsreaktionen unter einem kontrollierten Ladungstransfers verlaufen und dass die Mechanismen der Reaktionen bekannt sind. In der Praxis ist die Korrosion oft das Ergebnis mehrerer Reaktionen, und es ist nicht möglich, den Reaktionsmechanismus a priori zu bestimmen. In solchen Fällen kann der Polarisationswiderstand verwendet werden, um die Korrosionsbeständigkeit des untersuchten Metalls zu bestimmen.
Eine Elektrode ist polarisiert, wenn ihr ein Potential aufgezwungen wird, das von ihrem Wert bei offenem Stromkreis oder Korrosionspotential abweicht. Die Polarisation einer Elektrode führt dazu, dass aufgrund elektrochemischer Reaktionen an der Elektrodenoberfläche Strom fließt. Der Polarisationswiderstand Rp ist durch die Gleichung 1 definiert:
Dabei ist ∆E (V) die Veränderung des angelegten Potentials um das Korrosionspotential und ∆i (A) der resultierende Polarisationsstrom.
Der Polarisationswiderstand, RP (Ω), verhält sich wie ein Widerstand und kann berechnet werden, indem der Kehrwert der Steigung der Strom-Potentialkurve beim Korrosionspotential (OCP, Open Circuit Potential, Leerlaufspannung) ermittelt wird.
Während der Polarisation einer Elektrode, wird die Höhe des Stroms gesteuert durch die Reaktionskinetik und die Diffusion der Reaktanten sowohl zur Elektrode hin als auch von ihr weg.
Das Butler-Volmer-Modell setzt den Strom 𝑖 mit der Überspannung 𝜂 in Beziehung (Gleichung 2):
Die Überspannung 𝜂(V) = E − Ecorr ist definiert als die Differenz zwischen dem angelegten Potential E und dem Korrosionspotential Ecorr. Das Korrosionspotential Ecorr entspricht der Leerlaufspannung eines korrodierenden Metalls. Der Korrosionsstrom icorr1 und die Tafelkonstanten ba und bc können anhand der experimentellen Daten gemessen werden.
Für kleine Überspannungen 𝜂, d. h. für Potentiale nahe dem Korrosionspotential kann die obige Gleichung reduziert werden auf:
Oder nach Umstellung der Formel:
Wenn die Tafelsteigungen bekannt sind, können die Korrosionsströme aus dem Polarisationswiderstand unter Verwendung der oben aufgeführten Gleichungen berechnet werden. Wenn die Tafelsteigungen nicht bekannt sind (z. B. wenn der Korrosionsmechanismus nicht bekannt ist), kann Rp dennoch als quantitativer Parameter verwendet werden, um die Korrosionsbeständigkeit von Metallen unter verschiedenen Bedingungen zu vergleichen. Eine Probe mit einem niedrigen Rp korrodiert leichter als eine Probe mit einem hohen Rp.
Linear Sweep Voltammetry (LSV)
In Abbildung 1 sind die Ergebnisse eines LSV-Experiments dargestellt, das an einer in Meerwasser eingetauchten Eisenschraube durchgeführt wurde. Die Steigung der Kurve bei Ecorr = -0,319 V kann berechnet werden durch eine lineare Regression tangential verlaufend zu den Daten von -10 mV vs. Ecorr und +10 mV vs. Ecorr.
Die Ergebnisse der Regression sind in Abbildung 2 dargestellt. Der Polarisationswiderstand RP wird aus dem Kehrwert der Steigung (1/Steigung) berechnet und beträgt 9,489 kΩ.
Elektrochemische Impedanzspektroskopie
Der Polarisationswiderstand kann auch mit der elektrochemischen Impedanzspektroskopie (EIS) gemessen werden. Für einfache Systeme, bei denen das Nyquist-Diagramm einen Halbkreis zeigt, kann das in Abbildung 3 dargestellte Ersatzschaltbild zur Schätzung von Rp verwendet werden.
In Abbildung 4 ist das Nyquist-Diagramm dargestellt, das sich aus der Korrosion von Eisen in Sulfatlösung ergibt. Die durchgezogene Linie stellt den Fit der in Abbildung 3 dargestellten Schaltung dar, um den Polarisationswiderstands Rp zu berechnen.