Die Rückkehr zum Atomismus und der Aufstieg der modernen Chemie
Im Jahr 1808 veröffentlichte John Dalton (1766-1844) sein Buch "A New System of Chemical Philosophy" - ein Werk, das die Geburtsstunde der modernen Chemie markierte. In seinen Theorien griff Dalton Demokrits Konzept des Atomismus auf. Er postulierte, dass Atome die kleinsten Bestandteile der Materie sind und dass sie weder weiter geteilt noch in chemischen Reaktionen erzeugt oder zerstört werden können. Nach Dalton sind alle Atome desselben Elements identisch, unterscheiden sich aber von den Atomen anderer Elemente. Bei chemischen Reaktionen verbinden sich die Atome zu Verbindungen, werden voneinander getrennt oder relativ zu anderen Atomen neu angeordnet. Da Atome nach diesem Modell unteilbar sind und daher nur ganze Atome miteinander reagieren können, folgerte Dalton, dass die Elemente in einer Verbindung immer in ganzzahligen Verhältnissen vorhanden sind.
In seiner Atomtheorie stellte Dalton zahlreiche Hypothesen auf, die für unser Verständnis der Chemie bis heute von entscheidender Bedeutung sind. Einige der Prämissen seiner Theorie sind noch nicht schlüssig. So glaubte Dalton beispielsweise, dass ein Atom eines Elements nur mit genau einem Atom eines anderen Elements reagiert. Von dieser Hypothese wich er nur in den Fällen ab, in denen experimentelle Beobachtungen dies unbedingt erforderlich machten. So stellte er beispielsweise die Theorie auf, dass die Zusammensetzung von Wasser H-O sei, was zur Folge hatte, dass er sich später irrte, insbesondere bei der Bestimmung der relativen Atommassen.
Dennoch brachte seine Atomtheorie die Chemie auf den richtigen Weg. Von diesem Zeitpunkt an häuften sich die wissenschaftlichen Entdeckungen in der Chemie.
Vom Volumen der Gasen zu den Atom- und Molekülmassen
Im selben Jahr stellte Joseph Louis Gay-Lussac (1778-1850) fest, dass das Volumenverhältnis von miteinander reagierenden Gasen und ihren Reaktionsprodukten immer eine ganze Zahl ist. Gay-Lussac stellte beispielsweise fest, dass zwei Volumenteile Wasserstoff und ein Volumenteil Sauerstoff zu Wasser (H2O) reagieren und dass dieses gasförmige Wasser wiederum zwei Volumenteile einnimmt.
Im Jahr 1811 formulierte Amedeo Avogadro (1776-1856) dann die Hypothese, dass gleiche Gasvolumina unabhängig von der jeweiligen Substanz die gleiche Anzahl von Teilchen enthalten. Avogadros Hypothese war jedoch noch nicht allgemein anerkannt.
Erst 1860 gelang es seinem Schüler Stanislao Cannizzaro (1826-1910), die wissenschaftliche Gemeinschaft von ihrer Gültigkeit zu überzeugen, woraufhin die Hypothese als "Avogadrosches Gesetz" bekannt wurde. Es ermöglichte die Bestimmung der Molmassen zahlreicher Atome und Moleküle und ebnete damit den Weg für Fortschritte in der Chemie.
Gay-Lussac erlebte nicht nur die chemische Revolution, sondern auch die französische Revolution, die während seiner Jugend in seinem Heimatland wütete. Sein Vater, ein wohlhabender Rechtsanwalt und Staatsanwalt, wurde inhaftiert, und sein Erzieher floh. Der französische Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier (1743-1794), der im späten 18. Jahrhundert die erste systematische Nomenklatur und eine einheitliche Terminologie für die Chemie entwickelte, wurde guillotiniert.
Gay-Lussac profitierte jedoch von der neuen Ordnung, als er ausgewählt wurde, die École Polytechnique, eine Einrichtung der Revolution, zu besuchen. Zu seinen Mentoren gehörten so hochkarätige Wissenschaftler wie der Mathematiker Pierre Simon de Laplace.
Die chemische Industrie gab es schon vor der chemischen Revolution
Die späte Entwicklung der Atomtheorie durch Dalton könnte den Eindruck erwecken, dass sich eine chemische Industrie erst im 19. und 20. Jahrhundert entwickeln konnte. Im Gegenteil: Chemische Prozesse wurden bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts industriell genutzt. Obwohl das theoretische Verständnis der Chemie zu dieser Zeit noch nicht sehr ausgeprägt war, ermöglichten die experimentellen Erkenntnisse der Alchemisten zahlreiche praktische Anwendungen, sowohl bei der Herstellung als auch bei der Analyse von Chemikalien. Eine systematische Entwicklung und Optimierung von Verfahren, insbesondere für die Industrie, war jedoch aufgrund des fehlenden Grundlagenwissens nicht möglich. Die chemischen Fabriken des 18. Jahrhunderts glichen daher eher vergrößerten Laboratorien als den Fabriken, wie wir sie heute kennen.
Das erste chemische Verfahren, das in industriellem Maßstab angewendet wurde, war das Bleikammerverfahren zur Herstellung von Schwefelsäure. Das Verfahren war bereits seit dem Mittelalter bekannt und wurde seit 1746 in England in großem Maßstab angewandt. Ein weiteres wichtiges Verfahren ab dem späten 18. Jahrhundert war das Leblanc-Verfahren zur Herstellung von Soda (Natriumkarbonat), das in der Textilindustrie zum Bleichen von Leinen benötigt wurde und auch in der Seifen-, Glas- und Papierherstellung Verwendung fand. Nicolas Leblanc (1742-1806) entwickelte das Verfahren 1791 im Rahmen eines Wettbewerbs der französischen Akademie der Wissenschaften, die verzweifelt nach einem solchen Verfahren suchte, um von den teuren Importen von natürlichem Soda unabhängig zu werden. Das Leblanc-Verfahren wurde zur Methode der Wahl für die Herstellung von Natriumkarbonat, bis das Solvay-Verfahren 1880 für die Massenproduktion bereit war. Allerdings erhielt Leblanc nie sein Preisgeld. Als es fällig wurde, befand sich das Land in den Wirren der Revolution, und die Akademie wurde vom französischen Nationalkonvent aufgelöst.
Soda und Schwefelsäure gehören noch immer zu den wichtigsten Produkten der chemischen Industrie.
Analytik in der aufstrebenden chemischen Industrie
Neben Soda und Schwefelsäure waren die wichtigsten Produkte der chemischen Industrie im 18. Jahrhundert Salzsäure zur Chlorherstellung und Chlorwasser. Alle diese Produkte wurden auch von anderen Industrien benötigt. So wurde Soda unter anderem für die Seifenherstellung verwendet, während Chlor zum Bleichen von Textilien eingesetzt wurde. Da die Reinheit der Chemikalien in der verarbeitenden Industrie von entscheidender Bedeutung war, entwickelte man bald Methoden zur Qualitätskontrolle. Es wurden volumetrische Methoden entwickelt, die schnelle, qualitative Tests von Rohstoffen ermöglichten: Der Chemikalie wird ein Reagenz zugesetzt, von dem bekannt ist, dass es mit dem zu bestimmenden Stoff reagiert. Der Endpunkt der Reaktion wird mit einer geeigneten Methode sichtbar gemacht. Im letzten Schritt wird die Menge des verbrauchten Reagenzes bestimmt. Wurde eine empirisch bestätigte Menge an Reagenz verbraucht, galt die Chemikalie als geeignet. Quantitative Bestimmungen waren mit dieser rudimentären Vorstufe der Titration allerdings noch nicht möglich.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden in der Literatur Säure-Basen-Titrationen, Fällungstitrationen und Redoxtitrationen beschrieben. Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte Joseph Louis Gay-Lussac, der oft als Erfinder der Titration angesehen wird, neue titrimetrische Analysemethoden und machte die Titration einfacher, schneller und präziser. Die Entwicklungen auf dem Gebiet der Titration erfolgten fast ausnahmslos in Frankreich, wo die meisten Wissenschaftler nach der Revolution beim Staat angestellt waren und mit der Lösung industrieller Probleme betraut wurden, die für die Nation von Bedeutung waren. Eine Synthese von Wissenschaft und Industrie, wie sie Frankreich vorgemacht hatte, sollte sich bald auch im übrigen Europa durchsetzen.
Die rasante Entwicklung zur modernen Chemie setzte sich bis ins 19. Jahrhundert fort: Die organische Chemie war geboren und öffnete der Chemie die Tür nicht nur zur Nachahmung, sondern zur direkten Beeinflussung der Natur, z. B. durch den Einsatz von Medikamenten und Düngemitteln.
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